Das Gefängnis San Pedro in La Paz (Bolivien) gilt als eines der ungewöhnlichsten der Welt. Vor seinen Toren Recherche zu betreiben, erweist sich als gefährlich.
Von Andrea Schelbert
Zwei Gefängniswächter kommen
schnellen Schrittes auf mich zu. Der
eine sieht ganz nett aus. Umso böser
und entschlossener ist der andere, der
Mann mit dem Maschinengewehr. «Geben
Sie mir Ihre Kamera», fordert er
mich auf. Ich weigere mich. Wenn ich
die Digitalkamera jetzt aus meinen
Händen gebe, sehe ich sie nie wieder.
Fotografieren verboten
Wir befinden uns auf der Plaza Sucre in
La Paz, direkt vor dem grössten Gefängnis
Boliviens. Ich habe etwas gemacht,
was hier verboten ist: Ich habe den
Eingang zum Gefängnis fotografiert.
Wenige Sekunden vorher sah ich, wie
einer der Gefängniswächter seinem
Kollegen Geld zugesteckt hatte. Der
Mann befürchtet nun vermutlich, dass
ich diese Szene festgehalten habe.
Der Bolivianer ist mehr als nur sauer,
ich bin es auch. Er wirft mir vor,
gewusst zu haben, dass ich hier keine Fotos
machen dürfe. Ich habe es geahnt, doch
es ist nirgends von einem Fotoverbot zu
lesen. «Das ist ein öffentlicher Platz.
Wenn etwas verboten ist, dann muss
darauf aufmerksam gemacht werden.
Schreiben Sie es auf die
Gefängnismauern», erwidere ich verärgert.
Der Mann sagt, ich müsse aufs Polizeirevier
mitkommen. Ich mache keine
Anstalten, ihm zu folgen.
Zuviel habe ich über die korrupte Polizei
Boliviens schon gelesen. Sicher, die Situation
ist gefährlich, doch die Öffentlichkeit
bietet mir noch etwas Schutz. Inzwischen
werden wir von zahlreichen Schaulustigen
beobachtet. Eine alte Frau ergreift
Partei für mich, doch der erboste
Gefängniswächter ist nicht zu besänftigen.
Er ruft per Telefon nach Verstärkung.
Drohung
Natürlich muss ich das Bild löschen.
Und ein in La Paz anscheinend sehr
wichtiger Mann, der nach dem Anruf
auftaucht, erklärt mir nochmals, dass
ich gegen das Gesetz verstossen hätte.
Ich mache ihm klar, dass Verbote
signalisiert werden müssen. Er meint
darauf nur «la ultima vez», das letzte Mal.
Diesen Satz höre ich hier nicht zum
ersten Mal. Anscheinend benutzt man
ihn in Bolivien gerne als Drohung,
wenn man sich sonst nicht mehr zu
helfen weiss. Danach verschwinden
alle drei Männer.
Schmiergeld öffnet die Tore
Seit ein Fernsehteam aus Europa
heimlich einen Film über San Pedro
gedreht hat, ist der bolivianische Staat
vorsichtiger geworden. Der Gefängnisbesuch
für Touristen ist
offiziell nicht mehr möglich. Doch auf
illegalem Weg klappts alleweil: Touristen
müssen den mehr als kriminellen Gefängniswächtern
für Einlass Schmiergeld
bezahlen. Aktuell, so versichert mir
eine Frau, deren Bruder im Knast sitzt,
sind es 300 Bolivianos, etwa 50 Franken.
Für mich ist ein Besuch nun ausgeschlossen,
gelte ich doch als verdächtige
Person.
Gefängnis mit Bordell
Lange Warteschlangen vor dem Eingang gibt es
täglich zu sehen. Händler und die
Familienangehörigen können kommen
und gehen, wann sie wollen. Zur
Befriedigung bestimmter Bedürfnisse
unterhält San Pedro sogar ein Bordell,
in dem weibliche und männliche Prostituierte
«arbeiten». Sie kommen
abends, mehrmals pro Woche, von
draussen rein.
Die schlimmsten Verbrecher sind vermutlich
aber die Wächter. Sie bestimmen,
was (Waffen, Drogen, Alkohol) in
den Knast gelangt. Dass sie bei ihrem
dubiosen Geschäften nicht fotografiert
werden wollen, versteht sich von selbst.
Ein ungewöhnlicher Ort
Im Reiseführer
von Kai Ferraira Schmidt ist Folgendes
zu erfahren: «Das Gefängnis San
Pedro inmitten der Stadt La Paz ist
eines der ungewöhnlichsten der Welt.
Es umfasst einen ganzen Strassenblock,
aufgeteilt in Barrios ohne Zellen.
Es ist eine Stadt in der Stadt,
sogar mit eigener Fussballmannschaft.
Die meisten Insassen sind wegen
Drogendelikten hier, Schwerverbrecher
haben einen eigenen Block. Ursprünglich
war San Pedro als Männergefängnis
für 380 Personen vorgesehen.
Doch inzwischen leben die Häftlinge
mit ihren Familienangehörigen,
derzeit etwa 1300 Personen, darunter
200 Kinder. Die Gefängnisanlage steht
unter Selbstverwaltung, Wachpersonal
ist nur am Eingang.
Jeder Insasse bekommt vom Staat
monatlich etwa 15 Franken. Wer über
mehr Geld verfügt, bestimmt die Regeln.
Es herrscht der schiere Kapitalismus
im Gefängnis. Mit Geld, das
Gefangenen bei ihrer Einweisung
nicht abgenommen wird, kriegt man
alles. Die Gefangenen kaufen Unterkünfte,
sind Besitzer kleiner Geschäfte,
Restaurants, Kneipen oder sind für
die reicheren Insassen tätig.
Wer kein Geld hat, muss seinen
Lebensunterhalt selbst verdienen und
notfalls auf dem Boden schlafen.»
Weitere Texte, Reisereportagen, Interviews und Fotos unter www.andreaschelbert.ch
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